S. Schürer: Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit

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Titel
Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit. Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte


Autor(en)
Schürer, Stefan
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Guido Koller, Sektion Auswertung / Information, Schweizerisches Bundesarchiv

Am Ende des 20. Jahrhunderts wird Vergangenheit zur Gegenwart, «die Rückkehr des Verdrängten durchzieht die […] Verfassungsstaaten. Minderheiten, Unterprivilegierte und Verlierer der Moderne entdecken ihre Geschichte und reklamieren ihren Platz in der […] Gedächtnislandschaft». Diese «Opferkultur» geht einher mit einer «präzedenzlosen Verrechtlichung der Vergangenheit»: Wissenschaftliche historische Erkenntnisse werden mit rechtlichen Sanktionsmitteln verknüpft; Entschädigungen, offizielle Kommissionen, Rehabilitierungen zeugen von einer «staatlichen Wahrheitssuche zwecks Verwirklichung historischer Gerechtigkeit». Soweit der aktuelle geschichtspolitische Befund des Juristen Stefan Schürer. Ihm stellt sich daraus rechtswissenschaftlich «die Frage nach dem Verhältnis von Verfassung und Geschichte» mit dem Ziel, «eine verfassungsmässige Theorie historischer Gerechtigkeit» zu entwickeln. Schürer verfolgt die These, dass «historische Gerechtigkeit Teil der Verfassungswirklichkeit» ist und Grundrechte punktuell zum Massstab für die Beurteilung der Vergangenheit geworden sind. Er hält sich gleichzeitig an das Postulat, dass der Staat sich nicht mit der historischen Wahrheit identifizieren solle. Schürer wendet sich demnach strikt gegen «die Kollektivierung der Erinnerung» sowie gegen eine «eigentliche Vergangenheitspolitik».

Eine spannende Ausgangslage für Historiker. Eine aufmerksame Lektüre dieser rechtswissenschaftlichen Dissertation zu polit-historischen Fragen lohnt sich also unbedingt.

Im ersten Teil bespricht Schürer das Verhältnis zwischen Recht und Geschichte und veranschaulicht dies mit der vergangenheitspolitischen Aufarbeitung. Diese «lädt die Vorstellung von Gerechtigkeit mit dem Element der historischen Wahrheit auf». Dies sei problematisch, weil Recht sich nicht an Wahrheit, sondern an Normen ausrichtet: «Schreibt der Historiker in Sand, ist das Urteil des Gerichts in Stein gemeisselt», meint der Jurist. «Die Rechtssicherheit [zieht] stets aufs Neue einen Schlussstrich unter die Vergangenheit» (Rückwirkungsverbot, Verjährung). Daraus entsteht der rechtliche Begriff von Geschichte: ein Sachverhalt ist ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr dem Urteil von Gesetz und Gericht unterstellt.

Wer dagegen – wie z.B. die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) – eine Geschichte der Opfer erzählt, betrachte die Vergangenheit durch das Prisma der Grundrechte. Über sie «fliesst die neue Moral einer Opferkultur in die Praxis ein». Aber Recht periodisiert die Zeit: Eine neue Deutung der Grundrechte verweist auf die veränderte Vorstellung von Gerechtigkeit. Schürer bespricht in diesem Zusammenhang Fallbeispiele aus den letzten 20 Jahren: das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse, die Schweizer Weltkriegsvergangenheit und Wiedergutmachung, die Bundes gerichtsurteile in den Fällen Spring und Sonabend, Rehabilitierung von Fluchthelfern, Spanienkämpfern, den Fall Maurice Bavaud, die «offizielle Geschichtsschreibung» der UEK, die Beziehung zu Südafrika sowie «strafrechtlich geschützte Wahrheiten» (Art. 261bis StGB); auch abgelehnte Projekte der Auf arbeitung wie die Geschichte der Verdingkinder kommen kurz zur Sprache.

Die Frage für Schürer ist, «wie die Verfassung die Gegenwart der Vergangenheit aufnimmt». Die Verfassung selber sagt dazu nichts – bewirkende Grösse ist die Praxis. Die verfassungsrechtliche Öffnung gegenüber der Vergangenheit beschränkt sich auf die Grundrechte: «Sind sie verletzt worden, ist ein Aufarbeitung angezeigt.» Rechtlicher Massstab ist die Formel: «einst rechtmässig, heute ungerecht». Begünstigte Personen sind die einstigen Opfer, was Wiedergutmachung mit einer zeitlichen Schranke versieht.

Im zweiten Teil seiner Dissertation formuliert Schürer eine liberale Kritik an der vergangenheitspolitischen Aufarbeitung in der Schweiz. Seine Skepsis gegenüber «offizieller Geschichte» liegt in der «Furcht vor einem vergangenheitspolitischen Leviathan» begründet. Die staatliche Aufarbeitung begrenze sich nicht auf einzelne Aktionen – diese bildeten zusammen eine «Wahrheitslage», einen Horizont, der den Blick auf die Vergangenheit beeinflusst. Hier bestehe die Gefahr der staatlichen Vereinnahmung von Wahrheit, eines «Wahrheitsmonopols ». Besonders kritisch sei dies, wenn das Forschungsmonopol mit einem Archivprivileg verbunden werde. Dies verunmögliche eine freie Debatte.

Die UEK verfügte gemäss Schürer über ein solches Deutungsmonopol, sie
sei «Kristallisationspunkt eines neuen Geschichtsbewusstseins» in der Schweiz.
Aber alle Formen offizieller Geschichte schränken das Deutungsangebot ein –
kurz: der Zweck historischer Forschung, «die Entlegitimierung und Reflexion der
gelebten Vergangenheit», drohe in ihr Gegenteil umzuschlagen. Statt «eine Ordnung
der Freiheit» zu garantieren, gebärde sich der Staat, so Schürer überaus
vehement, als «historische Erziehungsanstalt». Er bevormunde die Bürger.

Schürer ist sich demnach sicher, dass «staatliche Wahrheiten» zu einer Verarmung wissenschaftlicher Erkenntnis führen, «offizielle Geschichte» werde mit der staatlichen Instrumentalisierung der Vergangenheit für die Gegenwart verbunden – hier droht «Geschichtspolitik», wie das Beispiel UEK zeige. Und dies wiederum verstösst gegen den Pluralismus und den Vorrang liberaler Gerechtigkeitsprinzipien. Denn die «Wahrheit des Staates» gehe einher mit «der Abwertung anderer Wahrheiten». Diese «staatliche Parteilichkeit» sei eine Provokation, eine «kollektive Zumutung», vor der das Individuum geschützt werden müsse.

Am Schluss wird Schürer wieder versöhnlicher: Geschuldet sei die Aufarbeitung den Opfern von einst. Ihre Sicht weist darauf hin, wie mit Ungerechtigkeit umgegangen werden soll. Aber in Schürers Deutung scheiden der Schutz der Erinnerung und ein Recht auf Wahrheit als Gründe für Massnahmen des Staates aus. Entscheidend ist für ihn, dass «die historische Wahrheit dem Staat keine Legitimation vermittelt». In einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft sei die staatliche Nicht-Identifikation mit der historischen Wahrheit geboten: Der Staat ist nicht Richter über die Vergangenheit, nicht Verwalter der historischen Wahrheit, nicht Wächter der Erinnerung, sondern steht im Dienste der Gerechtigkeit. Diese bedeutet (dann aber eben doch) späte Wiedergutmachung.

Schürers vergangenheitspolitisches Konzept erinnert stark an Henry Rousso, das Material über die erinnerungspolitische Debatte in der Schweiz stützt sich vor allem auf Thomas Maissen. Die Dissertation ist nicht frei von Widersprüchen (vor allem beim Vergleich von Beispielen) und enthält einige zum Teil kritische Stellen. Vor allem aber ist das begriffliche Instrumentarium zu wenig klar – Erinnerung, Vergangenheitspolitik, «Opferkultur» etc. werden nicht eigens für die Arbeit definiert, ein Nachteil, den der Autor situativ durch neue Festlegungen kompensiert. Er kommt so teilweise auch zu Fehleinschätzungen wie z.B. der UEK als «Wahrheitskommission». Schürer klammert die Massnahmen nach Kriegsende (Rechenschaftsberichte, Washingtoner Abkommen etc.) aus, ein gewichtiges inhaltliches Defizit angesichts der Zielsetzung der Arbeit.

Dennoch: Die juristische Dissertation stellt eine grosse eigene Leistung dar (was heute offenbar nicht mehr selbstverständlich ist) und liest sich eigentlich ganz spannend, auch wenn sie einige Längen aufweist. Nun denn: Wir warten im Gegenzug gespannt auf eine Beleuchtung dieser Thematik aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive.

Zitierweise:
Guido Koller: Rezension zu: Stefan Schürer: Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit. Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte. Zürich, Chronos-Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 180-182

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 180-182

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